Montag, 10. Februar
Der vorletzte Tag unserer
Südafrika-Reise verdeutlicht die Ambivalenz, welche uns im Westkap begegnet.
Geplant ist ein morgendlicher Ausflug in die Century City, eine künstlich
geschaffene Einkaufs-, Hotel- und Freizeit-Oase mitten im Nirgendwo vor
Kapstadt. Hier findet sich unter anderem eines der größten Einkaufszentren
(engl. „Mall“) Afrikas, mit allem, was das Konsumherz begehrt, Designer-Mode,
Autohändlern und Juwelieren. Unser Ziel steht jedoch schon vor Antritt des
Ausflugs fest – der in der Mall befindliche Biltong (Trockenfleisch)-Händler.
Dieser ist der Einzige, welcher uns die landestypischen Springbock-, Straußen-
und Kudu-Sorten anbieten kann. Als standesgemäßes Transportmittel in diese
Stätte der Dekadenz wählen wir den Bus und das Taxi (Taxis sind die typisch
afrikanischen Transporter mit ca. 12 Sitzplätzen). Erwähnenswert ist, dass die
Taxis Sinnbild der afrikanischen Flexibilität und nicht zuletzt auch eine
Lektion in Sachen Solidarität der Afrikaner sind. Man muss sich vorstellen, am
Straßenrand zu stehen. Plötzlich nähert sich in einem Taxi ein schreiender
Beifahrer, man tauscht bei etwa 100 dB Umgebungslautstärke die Destination aus,
der Taxifahrer steigt in sportlicher Mentalität in die Eisen, man steigt hinzu
und 10 Sekunden später befindet sich das Fahrzeug schon wieder in
Bewegung. Auf dem Weg zum Reiseziel verlangsamt das Taxi seine Fahrt bei
ungefähr jedem Passanten, der Kopilot
schreit wieder aus dem Fenster, Fahrgäste steigen aus und hinzu und so weiter.
Ein flexibleres Transportmittel des öffentlichen Personennahverkehrs ist kaum
vorstellbar, es ist geradezu die direkte Umsetzung von Angebot und Nachfrage.
Die oben beschriebene Solidarität der afrikanischen Fahrgäste zeigt sich uns
auf dem Rückweg von der Mall. Es ist nämlich keineswegs so, dass die Anzahl der
Sitzplätze die Anzahl der Fahrgäste limitiert. Wir waren allesamt etwas
verdutzt, als der Kopilot des Taxis trotz vollen Gefährtes weiteren Passanten
anbietet, dasselbe Taxi zu benutzen. Unsere Verwunderung soll zügig aufgelöst
werden, als der Kopilot unter einem Sitz zwei Holzbretter hervorzaubert, welche
quer über die Lücke zwischen den Sitzen gelegt werden, um so zwei neue
Sitzplätze zu schaffen. Zusätzlich wird die Mittelkonsole mitsamt der
Handbremse zum Sitz umfunktioniert, insgesamt kann also, nachdem alle Fahrgäste
zusammengerückt sind, ca. 16 Passagieren Platz in dem Taxi geboten werden. Dem
Umgebungsschalldruckpegel von 100 dB dröhnt in dem vollbesetzten Taxi
afrikanische Popmusik bei etwa 130 dB entgegen. Es ist jedoch
selbstverständlich, dass jedem Afrikaner eine Mitfahrt ermöglicht wird, auch
Einkäufe, Kinderwagen und Bananenkisten finden einen Platz. Wenngleich unser
Mitgefühl dem Fahrwerk der Taxis und unseren Steißbeinen gilt, hinterlässt die Rückfahrt
von der Century City doch einen sehr positiven Eindruck bei uns. Dieser wird
nur kurzzeitig von einem Salto mortale getrübt, welchen Gerrit unternimmt,
indem er mit seinem rechten Bein in ein Loch im Gehweg tritt. Aber nichts
Schlimmes ist passiert, der Weg wird unvermindert fortgesetzt. Während der
Morgen also dem Überfluss gewidmet war, steht der Nachmittag im Zeichen derer,
die nicht einmal das Nötigste haben. Wir machen uns erneut nach iThemba Labantu
auf, zum einen, um die für den Unterricht der Schüler geliehen Instrumente
zurückzugeben, zum anderen, um uns im Bead-Shop mit allem, was das Kunst- und
Keramikliebhaber-Herz begehrt, einzudecken. Die Anfahrt hierhin bestreiten wir
auf der Ladefläche des Marimba-Bandmobils. Natürlich lassen wir diese
Gelegenheit nicht ungenutzt, unserem Besuch den Blechmusik-Stempel zu
verpassen. Zunächst spielen wir den Preschool-Kindern einige Stücke vor,
gefolgt von einem Mini-Konzert für die Patienten der HIV- und AIDS-Station.
Anschließend trinken wir noch eine Limonade, unterhalten uns mit den
Mitarbeitern und (deutschen) FSJlerinnen und fahren, wie vereinbart, um 16.00
Uhr zurück nach Athlone. Gemessen in afrikanischen Zeiteinheiten. Erneut
begehen wir den Fehler, unsere okzidentale Zeitmessung als Maßstab für die
Terminfindung anzulegen. Auch nach mehreren Limonaden zeichnet sich um
16.45 Uhr noch keine Gelegenheit der Rückkehr ab. Grund hierfür ist das
Fehlen eines geeigneten Vehikels. Während Jonathan, unser Fahrer, diesem
Umstand gelassen begegnet, sehen wir unseren letzten Termin des Tages, ein
Dinner bei Thelo Wakefield, zu welchem wir um 18.00 Uhr geladen sind,
gefährdet. Mit einer knappen Stunde Verspätung schaffen wir es dennoch,
rechtzeitig zurückzukommen.
Bei Thelo angekommen, stellen wir
zunächst fest, dass der Hausherr noch gar nicht im Hause ist. Desire, seine
Frau, ist jedoch eine mehr als würdige Vertretung, welche uns fürstlich
bewirtet. Megan, seine Tochter teilt zunächst Wasser zur Erfrischung aus. Veit
nutzt die Gelegenheit, um noch schnell vor dem Dinner zu duschen, indem er
mittels geschickter Armmanöver das Tablett mit sechs randvollen Wassergläsern
in Megans Händen verkippt und ihren Inhalt – auf dem Sofa sitzend – über seinem
Haupt verteilt. Kurzerhand „bewaffnet“ sich Megan mit einem Fön und trocknet
den erfrischten Gast. Erstaunlicherweise geht keines der Kristallgläser zu
Bruch.
Das Abendessen entpuppt sich nach
kurzem Tischgebet als Reprise des südafrikanischen Überflusses. Neben
Springbock und Lamm werden Kartoffelgratin und Süßkartoffel-Butternut
(Kürbis)-Mash gereicht.
Nachdem wir unser Mahl beendet
haben, erscheint Thelo in der Tür. Im Sinne einer Erklärung seiner Verspätung
erzählt er uns interessante Geschichten aus den Irrungen und Wirren
internationalen Spitzensports. Nachdem wir ihm von den Ereignissen der
vergangenen Woche berichtet haben, kommen wir überein, dass die Blechmusik noch
deutlich weiter vorangetrieben werden muss und wir unsere Kräfte weiter bündeln
wollen, um dieses Ziel zu erreichen.
Nach einem Ständchen unseres Sextetts
fahren uns Thelo und Desire zurück ins Youth-Centre, wo wir die Erlebnisse des
Tages revuepassieren lassen.
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